Kolumnen

„Ein Gedicht ist die Eintrittskarte ins Reich der Tagesschauansagerinnen.“

Und die Schüler hörten sprachlos dieser Geschichte zu.

Celentana Arriscado kam aus Argentinien, war ein Jahr Austauschschülerin und sprach anfangs nicht ein einziges deutsches Wort. Und weil ich eine Vorliebe für Spanien und Spanisch besitze, war es zwangsläufig, dass wir uns kennen lernten. Ungefähr einen Monat vor ihrer Rückreise war sie bei uns zum Tee, und als ich sie fragte, was wirst Du denn Deinen Eltern und Freunden beim Empfang in Cordoba als Kostprobe in Deutsch erzählen, war sie ratlos. Ich nutzte die Chance der Stunde, und mit ein wenig Überredung konnte ich sie animieren, ein Gedicht von Heinrich Heine auswendig zu lernen. Es klang verdammt gut aus ihrem Mund mit dem spanischen Akzent.

Zurück in Cordoba studierte sie Journalismus und Publizistik. Sie besuchte uns noch zweimal. Beim letzten Mal war sie besonders stolz, denn sie hatte das Zwischenexamen bestanden und eine vorläufige Stelle beim Fernsehen ergattert.

„Auf eine lyrische Weise“, erklärte sie mir und erzählte, dass sie eines Tages durch einen Park in Cordoba spazieren gegangen sei, vorbei an Hecken, Bäumen und Blumenwiesen. Von weitem schon habe sie eine Bank gesehen, auf der sich zwei ältere Herren ausruhten. Als sie nähergekommen sei, habe sie die Herren zu ihrer Verwunderung Deutsch sprechen hören. Neugierig habe sie in Deutsch gefragt, ob sie sich zu ihnen auf die Bank setzen dürfe.

Die älteren Herren waren erstaunt, eine argentinische junge Frau in ihrer Muttersprache reden zu hören. Das Gespräch kam schnell auf die Schule und auch darauf, was man denn nun in Deutschland im Deutschunterricht so lerne. Und da habe sie brav drei Strophen dieses Gedichtes aufgesagt:

Im traurigen Monat November war’s,

Die Tage wurden trüber,

Der Wind riss von den Bäumen das Laub,

Da reist ich nach Deutschland hinüber.

 

Und als ich an die Grenze kam,

Da fühlt ich ein stärkeres Klopfen

In meiner Brust, ich glaube sogar,

Die Augen begunnen zu tropfen.

 

Und als ich die deutsche Sprache vernahm,

Da ward mir seltsam zumute;

Ich meinte nicht anders, als ob das Herz

Recht angenehm verblute.

Die Männer waren irgendwie im fernen Argentinien gerührt, als sie Heines Worte so unvermittelt aus ihrem Mund hörten. Dieses Gedicht eröffnete den Beginn einer kleinen Freundschaft, und da der eine der Herren mit dem argentinischen Fernsehen zu tun hatte, war selbstverständlich, dass  „ein Gedicht die Eintrittskarte ins Reich der Tagesschauansagerinnen ist.“

Und das erzählte ich meinen Schülern in etwa wahrheitsgetreu und mit ein wenig hyperbolischen Untertönen, warum es sich lohnt, Gedichte auswendig zu lernen.

Der Hofnarr

Kaum angekommen im neuen Jahr, steht der Karneval in Damme zum 401. Mal vor der Tür.
Wie im letzten Jahr müsste von der Rangordnung her der Karnevalsprinz der heiterste sein, aber dem Hofnarr wird ein zusätzliches Quäntchen besonderen Humors mehr zugeschrieben. Der Hofnarr ist der lustigste, der drolligste und spaßigste im ganzen Karneval, und keiner kann es ihm gleichtun. Er ist schließlich der Hofnarr im Hofstaat des Prinzen.
Früher aber war das nicht so.
Früher hatten die Narren ein schweres Los zu tragen. Weltweit standen sie in den Diensten von Königen und Pharaonen, von Fürsten und Majestäten. Überall wo Macht ausgeübt wurde, waren Narren allgegenwärtig. Narren waren anscheinend ein konstituierender Teil der Herrschaft. Sie waren die einzigen, die ihren Mund öffneten, während andere schwiegen. Denn hinter prunkreicher Herrschaft verbargen sich auch Auswüchse der Macht. Und wenn die Macht grenzenlos um sich griff und der Herrscher sich in seiner Herrschsucht schrankenlos gebärdete, da wagte natürlich keiner mehr, den Gewalthaber zu kritisieren –aber gerade in diesem Augenblick schlug die Stunde des Narren.

Warum aber gab es an allen Königshöfen den Narren? Warum duldete der Fürst die Gegenwart eines oder mehrer Narren? Schließlich kritisierten sie den Herrscher schonungslos, belustigten sich über ihn, und nicht selten machten sie ihren Herrn verlegen.

Das hat tiefere Gründe.
In der Bibel gibt es den aussagekräftigen Satz, der die Ursprünglichkeit des Narren erklärt: „Es spricht der Unwissende in seinem Herzen: Es gibt keinen Gott.“
Derjenige, der unwissend ist, ist ein Narr. Wer also nicht an Gott glaubt, muss ein Narr sein, weil die Existenz Gottes selbstverständlich ist. Und wer das Selbstverständliche nicht glauben kann, muss krank oder charakterlos oder einfach anormal sein. Man muss dementsprechend verrückt oder in Gedanken derangiert sein, um die Existenz Gottes nicht sehen zu können.
Menschen, die einen mentalen Defekt haben oder psychische Auffälligkeiten aufweisen, Geisteskranke, Versehrte, Verkrüppelte, Bettlägerige, Zwergwüchsige werden zu den dunklen Gestalten des Narrentums gezählt.
In der Bibel lesen wir zusätzlich, dass Gott den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen hat. Deshalb schien es im Mittelalter unvorstellbar zu sein, dass ein Verkrüppelter oder Missgestalteter nach Gottes Ebenbild gemacht worden sei. Deshalb wurden diese tragischen Narren beiseite geschoben, und diese fanden sich auf der untersten Stufe der sozialen Stufenpyramide wieder. Verbannt wie Aussätzige. Man möchte sich schließlich nicht anstecken lassen.
Warum aber ließ gerade der Herrscher den Narren trotzdem in seiner Nähe?
Der Grund liegt an der mittelalterlichen Vorstellung, dass Mächtiges und Ohnmächtiges, Gut und Böse, Wahnsinn und Genie auf Erden sehr eng beieinander liegen. Es könnte die Gefahr bestehen, dass der von Gottes Gnaden herrschende Regent auch stürzen kann. Und damit sich die Verhältnisse nicht drehten, braucht der Fürst den Hofnarr als einen warnenden Spiegel, in dem sich der Herrscher als Gegenteil des Narren selbst sieht.

Merkel, Putin, Diogenes, ein Kamel und der Schlaf

Wir alle haben es schon einmal erlebt. Man legt sich mit gutem Gewissen ins Bett, schläft ein, träumt schnell fünf, sechs kleine Träume, und plötzlich wird man ohne Grund wach. Nicht ganz wach, nur halbwach. Und dann ist der Teufel los. Die ganz kleinen täglichen Sorgen blähen sich zu einem Ballon auf, der in ein paar Sekunden explodieren wird. Die ganz kleinen Ängste entwickeln sich zu monströsen Ungeheuern, die man nicht verscheuchen kann.

Diese nächtliche Banalität hat der spanische Maler Francisco Goya in seinem Bild „Der Schlaf der Vernunft produziert die Ungeheuer“ verallgemeinert. Goya zeichnet einen Mann, dem der Kopf vor Müdigkeit auf den Tisch fällt. Er schläft gerade in dem Augenblick ein, in dem bizarre Fledermäuse aus ihren Höhlen heraus kriechen und Schrecken verbreiten. Goya will zeigen, dass nicht mehr die schläfrige Dumpfheit in Politik und Religion, sondern nur noch die Helligkeit der Aufklärung herrschen sollen. Der „aufgeklärte“ Mensch darf –symbolisch – nicht mehr schlafen, denn dann geriete die vernünftige Welt aus den Fugen. Wie in der Ukraine. Und in diesem Moment tritt unsere Bundeskanzlerin in das Rampenlicht der Geschichte.
Obwohl sie innerhalb weniger Tage einmal um die Welt geflogen ist, die in Kiew, in Washington, in Ottawa, in Moskau und in Minsk – zusätzlich auch noch in Brüssel ein Streitgespräch mit dem widerborstigen griechischen Ministerpräsidenten – ununterbrochen verhandeln musste, war sie hellwach; denn auf der anderen Seite saß schließlich Putin, von dem man weiß, dass er Karate pflegt. Die beiden, assistiert von Hollande und Poroschenko, verhandelten über den bewaffneten Frieden vom Nachmittag an über den Abend, über die Nacht bis in den Morgengrauen. Und als Putin aus dieser Schlacht der Appelle und Weckrufe am Morgen eingestand, es sei die härteste Nacht seines Lebens gewesen, da fragte ich mich besorgt: Wie kann unsere Bundeskanzlerin diesen Marathon der Verhandlungen aushalten, woher nimmt diese Frau ihre Kraft und wann schläft sie eigentlich. Auf die Frage, wie sie mit dem Schlafentzug umgehe, war sie anscheinend vorbereitet, denn vor 2 Jahren schon hat sie einmal auf eine ähnliche Frage geantwortet. Sie imitiere die Überlebenstechnik der Kamele. Nach ihrer Auffassung können Kamele für die Überquerung der Sahara unendliche Mengen an Wasser trinken und außerdem könnten sie auf Vorrat schlafen. Merkel selbst sagte wörtlich: „Ich habe eine Art Kamelkapazität, mit Schlaf umzugehen. Das ist eine Fähigkeit, die für dieses Amt nicht unwichtig ist. Ich kann über eine gewisse Zeit, fünf oder sechs Tage lang, mit wirklich sehr wenig Schlaf auskommen. Dann brauche ich auch wieder einen Tag, an dem ich ausschlafe, zehn, zwölf Stunden.“ Und damit zeigt die Bundeskanzlerin, was wirklich in ihr steckt, nämlich den griechischen Philosophen Diogenes, der einstens sinngemäß sagte: Glücklich ist, wer zur rechten Zeit wach bleibt.